Es wäre gut, wenn wir regelmäßig auf alles blickten, was wir als Gottes Geschenke unverdient besitzen und was Er aus reiner Barmherzigkeit Tag für Tag unaufhörlich uns verleiht. Er hat es gegeben; Er darf es nehmen. Er gab uns alles, was wir haben, Leben, Gesundheit, Kraft, Verstand, Freudigkeit, das Licht des Gewissens; alles, was wir an Gutem und Heiligem in uns haben, was an Glauben, was an erneuertem Willen, was an Gottesliebe, was an Selbstbeherrschung, was an Hoffnung auf den Himmel. Er gab uns Verwandte, Freunde, Erziehung, Ausbildung, Erkenntnis, die Bibel, die Kirche. Alles kommt von Ihm. Er hat es gegeben, Er darf es nehmen. Nähme Er es weg, dann wären wir berufen, Jobs Beispiel zu folgen und ergeben zu sein: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gebenedeit“ (Job 1,21). Wenn Er mit Seinen Segnungen fortfährt, sollten wir David und Jakob nachahmen und in beständigem Lobpreis und Dank leben und Ihm von dem Seinigen opfern. Wir gehören uns nicht selbst, so wenig wie das, was wir besitzen, unser eigen ist. Wir haben uns nicht selbst geschaffen; wir können nicht selbstherrlich über uns verfügen. Wir können nicht unsere eigenen Herren sein. Wir sind Gottes Eigentum durch Erschaffung, Erlösung und Wiedergeburt. Er hat einen dreifachen Anspruch auf uns. Bedeutet es nicht unsere Seligkeit, die Dinge in diesem Licht zu sehen? Bringt es uns aber irgendwie Seligkeit oder Trost zu glauben, daß wir uns selbst gehören? Junge und vom Glück begünstigte Menschen mögen so denken. Sie halten es für etwas Großes, wie sie meinen, in allem ihren Willen zu haben, von niemand abhängig zu sein, – an nichts denken zu müssen, was außer ihrem Blickfeld liegt, – zu leben ohne die Verdrießlichkeit beständigen Danksagens, beständigen Gebetes, beständiger Rücksicht in ihrem Tun auf den Willen anderer. Aber im Verlauf der Zeit werden sie wie alle Menschen erkennen, daß Unabhängigkeit nicht für den Menschen geschaffen ist – daß sie ein unnatürlicher Zustand ist -, daß sie für eine Weile angehen mag, uns aber nicht mit Sicherheit bis zum Ende führen wird. Nein, wir sind Geschöpfe; und als solche haben wir zwei Pflichten: ergeben zu sein und dankbar zu sein.
Betrachten wir daher die Wege der göttlichen Vorsehung uns gegenüber mit gläubigeren Augen als bisher. Versuchen wir eine wahrere Erkenntnis dessen zu erlangen, was wir sind und wo in Seinem Reich wir sind. Machen wir uns voll Demut und Ehrfurcht daran, Seine führende Hand in den Jahren unseres bisherigen Lebens zu verfolgen. Denken wir voll Dank an die vielen Erbarmungen, die Er uns in der Vergangenheit gewährt hat, an die vielen Sünden, derer Er nicht mehr gedacht hat, an die vielen Gefahren, die Er abgewendet hat, an die vielen Gebete, die Er erhört hat, an die vielen Fehler, die Er zum Guten gewendet hat, an die vielen Warnungen, die vielen Belehrungen, an das viele Licht und den überschwenglichen Trost, die Er uns von Zeit zu Zeit geschenkt hat. Erinnern wir uns gern der Zeiten und Tage, der Zeiten der Trübsal, der Zeiten der Freude, der Zeiten der Prüfung, der Zeiten der Erquickung. Wie umhegte Er uns als Kinder! Wie führte Er uns in jener gefährlichen Zeit, da der Geist selbständig zu denken und das Herz der Welt sich zu öffnen begann! Wie zügelte Er mit Seiner milden Zucht unsere Leidenschaften, dämpfte Er unsere Erwartungen, beruhigte Er unsere Befürchtungen, belebte Er unsere Mattigkeit, milderte Er unsere Verlassenheit und stärkte Er unsere Schwächen! Wie behutsam führte Er uns dem schmalen Tor entgegen! Wie lockte Er uns weiter auf Seinem Weg zur Ewigkeit, trotz seiner Rauheit, trotz seiner Einsamkeit und trotz des trüben Zwielichtes, das über ihm lag! Er ist uns alles gewesen. Er ist, wie Er es für Abraham, Isaak und Jakob war, unser Gott gewesen, unser Schild und großer Lohn, Verheißung und Erfüllung Tag für Tag. „Bis hierher hat Er uns geholfen“ (1 Sam 7,12). „Er denkt an uns und segnet uns“ (Ps 113,20). Er hat uns nicht umsonst erschaffen; Er hat uns so weit geführt, um uns weiter zu führen, um uns bis ans Ende zu führen. Er wird uns nie verlassen noch uns aufgeben; so daß wir kühn sagen dürfen: „Der Herr ist mein Helfer; ich fürchte nichts, was könnte ein Mensch mir antun!“ (Ps 55,5). Wir dürfen „alle unsere Sorge auf Ihn werfen, denn Er sorgt für uns“ (1 Petr 5,7). Was liegt uns daran, wie unser künftiger Pfad verläuft, wenn es nur Sein Pfad ist? Was liegt uns daran, wohin er uns führt, wenn er uns zu guter Letzt nur zu Ihm führt. Was liegt uns daran, was Er uns auferlegt, solange Er uns befähigt, es mit einem reinen Gewissen, einem treuen Herzen zu tragen, das nichts auf dieser Welt Ihm vorzieht? Was liegt uns daran, welcher Schrecken uns befällt, wenn Er nur nahe ist, uns zu schüren und zu stärken? „Du, Israel“, sagt Er, „bist Mein Knecht Jakob, den Ich erkoren habe, Samen Abrahams, Meines Freundes“ (Is 41,8).
„Fürchte Dich nicht, du Würmlein Jakob und ihr Männer Israels: Ich helfe dir, spricht der Herr und Dein Erlöser, der Heilige Israels“ (Is 41,14). „So spricht der Herr, der dich geschaffen hat, o Jakob, und der dich gebildet hat, o Israel: Fürchte dich nicht; denn Ich habe dich erlöset, Ich habe dich gerufen bei deinem Namen; Mein bist du! Wenn du durch Gewässer gehst, will Ich bei dir sein, und die Ströme werden dich nicht decken; wenn du im Feuer gehst, wirst du nicht verbrennen, und die Flamme wird dich nicht sengen. Denn Ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige Israels, dein Erlöser“ (Is 43,1-3).
aus: Predigt Dankbarkeit für frühere Erbarmungen, DP V, p. 103-105.