Fest des heiligen Apostels Andreas
„Einer von den beiden, die dies von Johannes hörten und ihm nachfolgten,
war Andreas, der Bruder des Simon Petrus“ (Joh 1, 40).
Mit diesem Fest beginnen wir unser Jahr und künden so durch wenige Wochen der Vorbereitung den Tag der Geburt Christi an. Der heilige Andreas, dessen Gedächtnis wir nun begehen, wurde als erster in die Schar der Apostel eingereiht. Denn (soweit die Schrift uns davon berichtet) war er der erste unter denen, die den Messias fanden und dessen Jünger zu werden begehrten. Die Umstände, die seiner Berufung vorausgingen, werden in dem Evangelienabschnitt erzählt, dem der Vorspruch entnommen ist. Dort erfahren wir, daß es Johannes der Täufer war, der ihm seinen Heiland zeigte. Es geziemte sich für den Vorläufer Christi, das Werkzeug zu sein, das Ihm die Erstlingsfrüchte Seiner Apostel zuführen sollte.
Der heilige Andreas, der bereits ein Jünger des heiligen Johannes war, begleitete zusammen mit einem anderen seinen Meister, als Jesus gerade vorbeiging. Der Täufer hatte von Anfang an seine eigene untergeordnete Stellung im Heilsplan, der damals sich zu entfalten begann, betont. Er nahm diese Gelegenheit wahr, um seine zwei Jünger auf Den hinzuweisen, der im Mittelpunkt dieses Planes stand. Er sagte: „Siehe, das Lamm Gottes“ [Joh 1, 36], Dieser ist es, von dem ich sprach, den der Vater erwählt und gesandt hat, das wahre Opferlamm, durch dessen Leiden die Sünden der Welt gesühnt werden. Auf diese Worte hin verließen die beiden Jünger (Andreas war, wie schon erwähnt, einer von ihnen) geradewegs Johannes und folgten Christus. Dieser wandte Sich um und fragte sie: „Was suchet ihr?“ [Joh 1, 38]. Sie äußerten den Wunsch, Seiner Belehrung lauschen zu dürfen. Er gewährte ihnen ihre Bitte, Ihn nach Hause zu begleiten und den Tag mit Ihm zu verbringen. Was Er ihnen sagte, wird uns nicht erzählt; aber der heilige Andreas wurde so fest überzeugt von der Wahrheit der Worte des Täufers, daß er daraufhin seinen Bruder aufsuchte, um ihm zu erzählen, was er gefunden hatte. „Dieser traf zuerst seinen Bruder Simon und sagte zu ihm: Wir haben den Messias gefunden… und er führte ihn zu Jesus.“
Der heilige Evangelist Johannes, der unter besonderem Antrieb verschiedene, in den ersten drei Evangelien nicht enthaltene Berichte über die einzelnen Apostel aufbewahrt hat, spricht noch an zwei anderen Stellen von Andreas. Er führt ihn unter Umständen ein, die zeigen, daß dieser Apostel, so wenig jetzt von ihm bekannt ist, in Wirklichkeit die Gunst und das Vertrauen des Herrn in hohem Maße besaß. In seinem zwölften Kapitel beschreibt er, wie Andreas einige Griechen, die nach Jerusalem gekommen waren, um anzubeten, und Christus zu sehen wünschten, zu Ihm führte. Es ist bemerkenswert, daß diese Fremden sich zuerst an den heiligen Philippus gewandt hatten. Anstatt nun diese von sich aus einzuführen, nahm er, obwohl selbst Apostel, seine Zuflucht zu seinem Landsmann, dem heiligen Andreas, als ob dieser auf Grund seines Alters oder seiner Vertrautheit mit Christus eher ein passender Vermittler wäre, ihre Bitte weiterzuleiten. „Philippus ging hin und sagte es dem Andreas; dann trugen Andreas und Philippus es Jesus vor“ [Joh 12, 22].
Diese beiden Apostel sind auch im sechsten Kapitel desselben Evangeliums anläßlich der Beratschlagung, die dem Wunder der Brotvermehrung vorausgeht, zusammen erwähnt. Wie zuvor fällt auch hier wiederum Andreas die Aufgabe zu, Fremde bei Christus einzuführen. „Es ist ein Knabe da“, sagt er zu seinem Herrn – ein Knabe, der vielleicht selbst nicht den Mut hatte, heranzukommen – „der fünf Gerstenbrote und zwei kleine Fische hat“ [Joh 6,9].
Diese Stellen liefern den Nachweis, daß unter den Aposteln der heilige Andreas in der besonderen Gunst Christi stand, und sie erhalten durch eine einzige Stelle in den anderen Evangelien, in der sein Name außer dem Apostelverzeichnis vorkommt, ihre Bestätigung. Nach der Weissagung über die Zerstörung des Tempels fragten Ihn „Petrus, Jakobus, Johannes und Andreas im Geheimen: Sage uns, wann dies geschehen wird?“ (Mk 13, 3). Und es waren diese vier, denen unser Heiland die Zeichen Seines Kommens und des Weltendes offenbarte. Hier wird der heilige Andreas als ein Mann gezeigt, der das besondere Vertrauen Christi besaß. Er ist auch jenen Aposteln beigesellt, die Christus bekanntlich bei verschiedenen Anlässen zum Zeichen Seiner besonderen Gunst aus den Zwölfen ausgewählt hat.
Außer diesen inspirierten Nachrichten ist vom heiligen Andreas wenig bekannt. Er soll in Skythien das Evangelium gepredigt haben, und zuletzt erlitt er den Martertod in Achaia. Er starb den Tod am Kreuz, wobei nach der Überlieferung jene Kreuzesform verwendet wurde, die heute noch seinen Namen trägt.
Wie wenig auch die Schrift über ihn erzählt, so bietet sie uns doch genug Stoff für eine Lehre, die sehr der Beachtung wert ist. Die vorliegenden Tatsachen sind folgende: Der heilige Andreas war der erste unter den Aposteln, der zu Christus fand; er erfreute sich in besonderem Maße des Vertrauens unseres Herrn; dreimal führte er nach dem Bericht der Schrift andere zu Ihm; schließlich ist er in der Geschichte wenig bekannt, weil der Ehrenplatz und das höchste Ansehen seinem Bruder Simon zuerkannt wurde, den er durch seine persönliche Vermittlung mit seinem Heiland bekannt gemacht hatte.
Unsere Lehre ist daher folgende: Nicht jene sind unbedingt die brauchbarsten Menschen ihrer Zeit noch die besonderen Lieblinge Gottes, die den größten Lärm in der Welt schlagen und die Führer in den großen Umwälzungen und Ereignissen der Geschichte zu sein scheinen. Im Gegenteil, selbst wenn wir auf eine gewisse Anzahl von Menschen verweisen können, die wirklich Werkzeuge großer Wohltaten für die Menschheit waren, so ist unser diesbezügliches Urteil beim Vergleich des einen mit dem anderen oft sehr irrig. Würden wir den Spuren der Hand Gottes in den menschlichen Geschehnissen getreu nachgehen und Seine Güte, wie sie sich in der Welt entfaltet, bis zu ihrem Urquell zurückverfolgen, dann müßten wir unsere Bewunderung für das Mächtige und Hervorstechende, unser Vertrauen auf die öffentliche Meinung, unsere Achtung vor den Entscheidungen der Gelehrten oder der Menge im gesamten aufgeben und statt dessen unser Augenmerk auf das persönliche Leben richten und in allem, was wir darin lesen oder sehen, nach dem wahren Zeichen der göttlichen Gegenwart ausschauen, nämlich nach den Gnaden der persönlichen Heiligkeit, die sich in Seinen Auserwählten offenbaren. Wie schwach diese auch den Menschen erscheinen mögen, sie sind machtvoll durch Gott. Sie haben Einfluß auf den Lauf Seiner Vorsehung und bewirken in der weiten Welt große Ereignisse, dort, wo die Weisheit und Kraft des natürlichen Menschen unwirksam sind.
Beachtet nun zuerst die Auswirkung dieses Gesetzes in Gottes Weltregierung, die Weise nämlich, nach der sie jene zeitlichen Güter gewährt, die von größter Bedeutung für die Sicherstellung unseres Wohlstandes und unserer Behaglichkeit im heutigen Leben sind. Wer hat zum Beispiel als erster das Getreide angebaut? Wer bändigte und zähmte zuerst die Tiere, deren Kraft wir ausnützen und die uns zur Nahrung dienen? Oder wer entdeckte zuerst die Heilkräuter, die seit Urzeiten unsere Hilfsmittel gegen Krankheit waren? War es ein sterblicher Mensch, der die Pflanzen- und Tierwelt so tief durchschaute und zwischen Nützlichem und Wertlosem unterschied: unbekannt ist sein Name den Millionen, denen er Wohltaten erwiesen hat. Es ist eine offenkundige Tatsache, daß jene, die die erfolgreichsten Erfindungen anregen und einen Weg zu den geheimen Kammern der Natur öffnen, jene, die sich auf der Suche nach Wahrheit müde arbeiten, die die bedeutsamen Grundgesetze des Handelns ausfindig machen, oder die nur mit Mühe bei ihren Zeitgenossen die Annahme wohltätiger Maßnahmen durchsetzen, oder die auch den ersten Anstoß zu den Hauptereignissen in der Geschichte eines Landes geben, gewöhnlich, was Berühmtheit und Belohnung angeht, von unbedeutenderen Männern verdrängt werden. Ihre Werke tragen nicht ihren Namen, noch auch tun es die Künste und Systeme, die sie der Welt geschenkt haben. Fremde bemächtigen sich ihrer Schulen; ihre weisen Sprüche gehen um unter den Kindern ihres Volkes und formen vielleicht den Charakter der Nation, aber sie verewigen nicht in ihrer eigenen Unsterblichkeit die Namen ihrer ursprünglichen Schöpfer.
Dieser Art ist die Geschichte der sozialen und politischen Welt, und die in ihr erkennbare Regel gilt noch klarer im Bereich des Sittlichen und Religiösen. Wer unterwies die Lehrer und die Heiligen der Kirche, die in ihren Tagen oder in späteren Zeiten die berühmtesten Ausleger der Satzungen über Recht und Unrecht gewesen und in Wort und Tat die Lenker unserer Lebensführung sind? Sprach die Allmächtige Weisheit zu ihnen durch ihre eigene Verstandestätigkeit, oder unterwarf sie dieselben nicht vielmehr Lehrern, die zwar ohne Ruhm sind, aber weiser vielleicht als sie selbst? Andreas folgte Johannes dem Täufer, während Simon bei seinen Netzen blieb. Als erster erkannte Andreas den Messias unter den Einwohnern des verachteten Nazareth; Und er führte seinen Bruder zu Ihm. Doch zu Andreas sprach Christus kein Wort der Empfehlung, das in der Erinnerung hätte bleiben dürfen. Dagegen gab Er dem Simon gleich bei seinem ersten Kommen den ehrenvollen Namen, mit dem er jetzt bezeichnet wird, und später rückte Er ihn als das symbolhafte Fundament Seiner Kirche in den Vordergrund. Zwar können wir keineswegs daraus etwas folgern bezüglich der persönlichen Würdigkeit der beiden Brüder; nur das wird klar, daß in dem providentiellen Verlauf der Geschehnisse der eine der verborgene Anfang und der andere das öffentliche Werkzeug eines großen göttlichen Werkes war. Der heilige Paulus hinwieder wurde mit dem Vorzug einer wunderbaren Bekehrung geehrt und dazu berufen, der Hauptträger für die Ausbreitung des Evangeliums unter den Heiden zu sein; doch Ananias, einem sonst unbekannten Heiligen in Damaskus, wurde die hohe Aufgabe übertragen, dem Heidenapostel die Gaben der Verzeihung und den Heiligen Geist zu vermitteln.
So handelt die Vorsehung Tag für Tag. Das Jugendleben aller Menschen verläuft in der Verborgenheit; gewöhnlich wird ihr Charakter im Kindesalter zum Guten oder zum Bösen geformt. Jene, die die Kinder zum Guten erziehen und ihre wahrsten und hauptsächlichsten Wohltäter sind, bleiben der Welt unbekannt. Man hat bemerkt, daß sehr hervorragende Christen mit frommen Müttern gesegnet waren und in ihrem späteren Leben ihre eigenen Gnaden der Vermittlung ihrer Unterweisung zugeschrieben haben. Augustinus hat der Kirche die Lebensgeschichte seiner Mutter Monika erhalten; aber bei anderen ist uns sogar der Name unserer großen Wohltäterin, wer immer sie war, und manchmal zweifellos auch der Umstand ihres Dienstes überhaupt vorenthalten worden.
Wenn wir auf die Geschichte der inspirierten Bücher schauen, so gilt immer noch die gleiche Regel. Betrachtet das Alte Testament, das „uns weise macht zum Heil“ [2 Tim 3, 15]. Welch großer Teil desselben ist von unbekannten Verfassern geschrieben! Das Buch der Richter, das zweite Buch Samuel, die Bücher der Könige, der Chronik, das Buch Esther und Job und ein großer Teil des Psalters. Das letzte Beispiel ist das beachtenswerteste. „Nützlich“ mehr als Worte sagen können, ist zwar die uns in jedem Wort der Schrift vermittelte Unterweisung, aber die Psalmen sind der unmittelbar und sichtlich nützlichste Teil des ganzen Buches, da sie das Gebetbuch der Kirche bilden, immer schon, seit sie geschrieben sind. Sie haben mehr dazu beigetragen (soweit wir ein Urteil wagen dürfen), Seelen für den Himmel vorzubereiten als jedes andere inspirierte Buch, ausgenommen die Evangelien. Doch sind die Verfasser eines großen Teils derselben gänzlich unbekannt. Ebenso steht es mit den liturgischen Formen, die von Anfang an Besitz der christlichen Kirche gewesen sind. Wer waren jene gereiften und erhabenen Heiligen, die sie uns hinterlassen haben? Ja, wer sind im ganzen Aufbau unseres Gottesdienstes die Schöpfer jeder einzelnen schönen Feier und jedes einzelnen erbaulichen Brauches? Wer erfand die Melodien, in denen unser Lobpreis Gott dargebracht wird und in denen eine so erstaunliche Überzeugungsgewalt wohnt, „daß wir anbeten, niederfallen und niederknien vor dem Herrn, unserem Schöpfer“ [Ps 94, 6]? Wer waren jene frommen Männer, unsere geistlichen Väter im „katholischen Glauben“, die vormals über das ganze Land hin die herrlichen Bauten aufführten, in denen wir Gottesdienste halten? Leider wahren wir ihr Andenken mit geringerem Dank, als wir es in schuldiger Ehrfurcht ausdrücken sollten. „Kein Denkmal“ kündet die Größe dieser in jedem Zeitalter lebenden Männer; sie „sind dahin, als wären sie nie gewesen; und werden, als wären sie nie geboren“ [Sir 44, 9].
Nun weiß ich, daß Überlegungen dieser Art geeignet sind, uns traurig und verdrießlich zu stimmen; besonders jene von uns, die einen brennenden und lodernden Geist, eine hochherzige Liebe zu allem Großen und Guten und einen edlen Haß gegen Ungerechtigkeit in sich tragen. Diese versöhnen sich nur schwer mit dem Gedanken, daß der Triumph der Wahrheit in allen seinen Formen auf die kommende Welt verschoben ist. Sie würden am liebsten den gerechten Richter jetzt schon kommen sehen: ja, vielleicht sind sie etwas zu günstig eingestellt zur gegenwärtigen Welt, um sich ohne Widerstand in eine Anschauung zu fügen, die Zeugnis gibt von der Verderbtheit ihrer Entscheidungen und der Wertlosigkeit ihrer Ehren. Aber, daß dies eine Wahrheit ist, das hat sich bereits schon als feststehende Tatsache erwiesen, ganz abgesehen von dem klaren Erweis der Schrift. Besteht aber dies zu Recht, so ist es Sache unserer Klugheit, wie es auch unser Vorrecht werden wird, unsere geistige Einstellung ihr anzupassen und sie nicht allein im Wort, sondern mit ganzer Ernsthaftigkeit anzunehmen.
Weshalb nun sollten wir uns von diesem huldvollen Gesetz der göttlichen Vorsehung in der Gegenwart abkehren, wie es uns selbst oder unseren Lieben gegenüber obwaltet, wenn doch unsere Unterwerfung unter dieses Gesetz uns gerade mit den besten und edelsten unseres Geschlechtes und mit Wesen verbindet, die ihrer Natur und ihrer Stellung nach uns überlegen sind? Von Andreas weiß man außer seinem Namen fast nichts. Dagegen hat Petrus stets den Ehrenplatz überall in der Kirche besessen. Und doch brachte Andreas den Petrus zu Christus. Sind nicht die heiligen Engel der Welt unbekannt? Ist nicht Gott Selbst, der Urheber alles Guten, der Menschheit im allgemeinen verborgen, nur teilweise offenbar und wenig geehrt, außer in ein paar da und dort verstreuten Dienern? Und Sein Geist, wissen wir, woher Er kommt und wohin Er geht? Obwohl Christus die Menschen alle Weisheit gelehrt hat, die von Anfang an unter ihnen war, hieß es dennoch von Ihm damals, als Er in sichtbarer Gestalt auf die Erde kam, „die Welt hat Ihn nicht erkannt“ [Joh 1, 10]. Gottes wunderbare Vorsehung wirkt unter einem Schleier, der nur eine undeutliche Sprache spricht. Um Ihn zu sehen, der die Wahrheit und das Leben ist, müssen wir uns unter Ihn beugen und so uns selbst vor der Welt verbergen. Wer sich am Königshof vorstellt, schreitet vor zu den inneren Gemächern, wohin der staunende Blick der rohen Menge nicht dringen kann. Wenn wir den König der Könige in Seiner Herrlichkeit sehen wollen, müssen wir willens sein, aus der sichtbaren Welt uns zurückzuziehen. Verborgen sind Gottes Heilige. Sind sie den Menschen bekannt, dann sind sie es durch Zufall, auf Grund ihrer zeitlichen Aufgabe, weil sie eine hohe irdische Stellung innehaben oder ein rein irdisches Werk vollbringen, nicht weil sie Heilige sind. Petrus hat einen Platz in der Geschichte, weit mehr als ein Hauptwerkzeug einer eigenartigen Umwälzung in der Menschheit als wegen seines wahren Charakters, eines selbstlosen Jüngers seines Herrn, dem Wahrheiten geoffenbart wurden, die Fleisch und Blut nicht erkennen konnten. Wie arm sind wir doch an Geist und wie entehren wir die Fähigkeiten und die wahre Würde unserer Natur, wenn wir sie dem Urteil und Verfügungsrecht aller ihrer minderwertigen Vertreter unterwerfen, nämlich dem Lob ungesitteter und ungebildeter Menschen und der armseligen Belohnung von Seiten fleischlich gesinnter und sündiger Menschen! Wie soll überhaupt das Fleisch Richter des Geistes sein? Oder der Sünder Richter über Gottes Auserwählte? Haben wir nach unten zu schauen oder nach oben? Sollen wir in niedriger Gesinnung das Recht der vielen, die den breiten Weg gehen, anerkennen, Richter über die Heiligkeit zu sein, die von Gott kommt und an Ihn sich wendet? Sieht nicht das Auge des Glaubens die Zeugen unseres Verhaltens, die immer gegenwärtig und unserer Achtung weit mehr wert sind als eine Welt von Gottlosen? Ist der Mensch das vornehmste Wesen in der Schöpfung? Sicher, wir werden so gut wie unser göttlicher Herr „von den Engeln gesehen“. Ja, wir werden sogar von ihnen bedient, so sehr sie auch an Kraft uns überlegen sind! Der heilige Paulus sagt uns deutlich, es sei Gottes Absicht, daß „Seine mannigfaltige Weisheit den himmlischen Herrschaften und Mächten durch die Kirche kundgetan werden solle“ (Eph 3, 10). Wenn wir Christen werden, werden wir „in das Innere des Vorhanges“ [Hebr 6, 19] hineingetauft, einer unzählbaren Schar von Engeln nahegebracht. Während wir ihnen so gleichen in ihrem verborgenen Dasein, werden uns ihre Dienste und ihre Zuneigungen zuteil. Daher mahnt derselbe Apostel den Timotheus, im Gehorsam zu verharren nicht nur im Gedanken an Gott, sondern auch im Gedanken an die Engel. Ohne Zweifel sollten wir das dauernde Gefühl hegen, daß sie uns bei unseren geheimsten Taten und in den aufs sorgsamste gehüteten Verstecken sehen.
Es ist übergenug für einen sündigen Sterblichen, zu einem Mitarbeiter und Mitanbeter der seligen Geister erhoben zu werden und zum Diener und Kind des allerhöchsten Gottes. Wir wollen eher versuchen, uns unseres Vorrechtes bewußt zu werden, und überdies uns selbst wegen unseres Mangels an Glauben demütigen. Wir sind die Auserwählten Gottes und haben Zutritt „durch die Tore in die himmlische Stadt“, solange wir „Seine Gebote halten“ (Offb 22, 14), indem wir wie Andreas Christus folgen, auf Ihn verwiesen durch Seine Prediger und Diener. Denen, die so „folgen, um Ihn zu sehen“ [Joh 1, 39], offenbart Er Sich, während Er der Welt verborgen ist. Sie sind Ihm nahe als Seine vertrauten Diener und sind die wahren Gehilfen in den verschiedenen göttlichen Fügungen, die in der Geschichte der Völker uns begegnen, wiewohl übersehen von ihren Geschichtsschreibern und Weisen. Sie legen die zeitlichen Bedürfnisse der Menschen Christus vor und sind Zeugen Seines wunderbaren Tuns mit den Gerstenbroten und Fischen; sie führen auch Fremde zu Ihm, damit sie Seiner liebevollen Aufmerksamkeit und Seiner Lehre teilhaftig werden. Bringt Er Sorge und Kummer über ein sündiges Volk, so besitzen sie die wahrste Erkenntnis Seines Willens und können am besten Seine Taten deuten; denn sie hatten in Beschauung und Gebet gelebt; und während andere die herrlichen Steine und Bauten des äußeren Tempels rühmen, haben sie von Ihm im stillen gehört, wie das Ende sein wird. So leben sie. Wenn sie sterben, weiß die Welt nichts von ihrem Verlust und bald läßt sie entgleiten, was sie von ihrem Leben hätte festhalten können. Die Kirche Christi aber tut, was sie kann. Sie sammelt ihre Reliquien, ehrt ihren Namen, auch wenn ihre Werke nicht entdeckt werden können. Aber jene Werke sind ihnen gefolgt. Beim Erscheinen ihres Herrn zum Gericht werden sie endlich vor aller Welt enthüllt und in Seinem himmlischen Reich um Seiner Verdienste willen ewig belohnt.
John Henry Newman, Deutsche Predigten, Schwabenverlag, Stuttgart 1950, Bd II, 1,9-21